Der Schimmelreiter

Auszug aus dem Roman von T. Storm

 

Theodor Storm

(...) Es war im Januar von Haukes drittem Dienstjahr, als ein Winterfest gehalten werden sollte; "Eisboseln" nennen sie es hier. Ein ständiger Frost hatte beim Ruhen der Küstenwinde alle Gräben zwischen den Fennen mit einer festen ebenen Kristallfläche belegt, so daß die zerschnittenen Landstücke nun eine weite Bahn für das Werfen der kleinen mit Blei ausgegossenen Holzkugeln bildeten, womit das Ziel erreicht werden sollte. Tagaus, tagein wehte ein leichter Nordost: alles war schon in Ordnung; die Geestleute in dem zu Osten über der Marsch gelegenen Kirchdorf, die im vorigen Jahre gesiegt hatten, waren zum Wettkampf gefordert und hatten angenommen; von jeder Seite waren neun Werfer aufgestellt; auch der Obmann und die Kretler waren gewählt. 

Buchempfehlungen zum Thema Boßeln: KLICK

Zurück

Zu letzteren, die bei Streitfällen über einen zweifelhaften Wurf miteinander zu verhandeln hatten, wurden allezeit Leute genommen, die ihre Sache ins beste Licht zu rücken verstanden, am liebsten Burschen, die außer gesundem Menschenverstand auch noch ein lustig Mundwerk hatten. Dazu gehörte vor allen Ole Peters, der Großknecht des Deichgrafen. ,Werft nur wie die Teufel’, sagte er; ,das Schwatzen tu ich schon umsonst!’

(...) Auf der weiten Weidefläche, die sich zu Osten an der Landseite des Deiches entlangzog, sah man am Nachmittag darauf eine dunkle Menschenmasse bald unbeweglich stillestehen, bald, nachdem zweimal eine hölzerne Kugel aus derselben über den durch die Tagessonne jetzt vom Reif befreiten Boden hingeflogen war, abwärts von den hinter ihr liegenden langen und niedrigen Häusern allmählich weiterrücken; die Parteien der Eisbosler in der Mitte, umgeben von alt und jung was mit ihnen sei es in jenen Häusern oder in denen droben auf der Geest, Wohnung oder Verbleib hatte; die älteren Männer in langen Röcken, bedächtig aus kurzen Pfeifen rauchend, die Weiber in Tüchern und Jacken, auch wohl Kinder an den Händen ziehend oder auf den Armen tragend. Aus den gefrorenen Gräben welche allmählich überschritten wurden, funkelte durch die scharfen Schilfspitzen der bleiche Schein der Nachmittagssonne; es fror mächtig, aber das Spiel ging unablässig vorwärts, und aller Augen verfolgten immer wieder die fliegende Kugel, denn an ihr hing heute für das ganze Dorf die Ehre des Tages. Der Kretler der Parteien trug hier einen weißen, bei den Geestleuten einen schwarzen Stab mit eiserner Spitze; wo die Kugel ihren Lauf geendet hatte, wurde dieser, je nachdem unter schweigender Anerkennung oder dem Hohngelächter der Gegenpartei in den gefrorenen Boden eingeschlagen, und wessen Kugel zuerst das Ziel erreichte, der hatte für seine Partei das Spiel gewonnen.

Gesprochen wurde von all den Menschen wenig; nur wenn ein Kapitalwurf geschah hörte man wohl einen Ruf der jungen Männer oder Weiber; oder von den Alten einer nahm seine Pfeife aus dem Mund und klopfte damit unter ein paar guten Worten den Werfer auf die Schulter: ,Das war ein Wurf, sagte Zacharias, und warf sein Weib aus der Luke!’ oder: ,So warf dein Vater auch; Gott tröst ihn in der Ewigkeit!’ oder was sie sonst für Gutes sagten.

Bei seinem ersten Wurfe war das Glück nicht mit Hauke gewesen: als er eben den Arm hinten ausschwang, um die Kugel fortzuschleudern, war eine Wolke von der Sonne fortgezogen die sie vorhin bedeckt hatte, und diese traf mit ihrem vollen Strahl in seine Augen; der Wurf wurde zu kurz, die Kugel fiel auf einen Graben und blieb im Bummeis stecken.

,Gilt nicht! Gilt nicht! Hauke, noch einmal!’ riefen seine Partner. Aber der Kretler der Geestleute sprang dagegen auf: ,Muß wohl gelten; geworfen ist geworfen!’

,Ole! Ole Peters!’ schrie die Marschjugend. ,Wo ist Ole? Wo, zum Teufel, steckt er?’

Aber er war schon da: ,Schreit nur nicht so! Soll Hauke wo geflickt werden? Ich dacht’s mir schon.’

- ,Ei was! Hauke muß noch einmal werfen; nun zeig, daß du das Maul am rechten Fleck hast!’

,Das hab ich schon!’ rief Ole und trat dem Geestkretler gegenüber und redete einen Haufen Gallimathias aufeinander. Aber die Spitzen und Schärfen, die sonst aus seinen Worten blitzten, waren diesmal nicht dabei. Ihm zur Seite stand das Mädchen mit den Rätselbrauen und sah scharf aus zornigen Augen auf ihn hin; aber reden durfte sie nicht, denn die Frauen hatten keine Stimme in dem Spiel.

,Du leierst Unsinn’, rief der andere Kretler, ,weil dir der Sinn nicht dienen kann! Sonne, Mond und Sterne sind für uns alle gleich und allezeit am Himmel; der Wurf war ungeschickt, und alle ungeschickten Würfe gelten!’

So redeten sie noch eine Weile gegeneinander; aber das Ende war, daß nach Bescheid des Obmanns Hauke seinen Wurf nicht wiederholen durfte.

,Vorwärts!’ riefen die Geestleute, und ihr Kretler zog den schwarzen Stab aus dem Boden, und der Werfer trat auf seinen Nummerruf dort an und schleuderte die Kugel vorwärts. Als der Großknecht des Deichgrafen dem Wurfe zusehen wollte, hatte er an Elke Volkerts vorbei müssen: ,Wem zuliebe ließest du heut deinen Verstand zu Hause?’ raunte sie ihm zu.

Da sah er sie fast grimmig an, und aller Spaß war aus seinem breiten Gesichte verschwunden. ,Dir zulieb!’ sagte er, ,denn du hast deinen auch vergessen!’

,Geh nur; ich kenne dich, Ole Peters!’ erwiderte das Mädchen, sich hoch aufrichtend; er aber kehrte den Kopf ab und tat, als habe er das nicht gehört.

Und das Spiel und der schwarze und der weiße Stab gingen weiter. Als Hauke wieder am Wurf war, flog seine Kugel schon so weit, daß das Ziel, die große weiß gekalkte Tonne, klar in Sicht kam. Er war jetzt ein fester junger Kerl, und Mathematik und Wurfkunst hatte er täglich während seiner Knabenzeit getrieben. ,Oho, Hauke!’ rief es aus dem Haufen; ,das war ja, als habe der Erzengel Michael selbst geworfen!’ Eine alte Frau mit Kuchen und Branntwein drängte sich durch den Haufen zu ihm; sie schenkte ein Glas voll und bot es ihm: ,Komm’, sagte sie, ,wir wollen uns vertragen: das heut ist besser, als da du mir die Katze totschlugst!’ Als er sie ansah, erkannte er, daß es Trin' Jans war. ,Ich dank dir, Alte’, sagte er; ,aber ich trink das nicht.’ Er griff in seine Tasche und drückte ihr ein frischgeprägtes Markstück in die Hand: ,Nimm das und trink selber das Glas aus, Trin'; so haben wir uns vertragen!’

,Hast recht, Hauke!’ erwiderte die Alte, indem sie seiner Anweisung folgte; ,hast recht; das ist auch besser für ein alt Weib wie ich!’

,Wie geht's mit deinen Enten?’ rief er ihr noch nach, als sie sich schon mit ihrem Korbe fortmachte; aber sie schüttelte nur den Kopf, ohne sich umzuwenden, und patschte mit ihren alten Händen in die Luft. ,Nichts, nichts, Hauke; da sind zu viele Ratten in euren Gräben; Gott tröst mich; man muß sich anders nähren!’ Und somit drängte sie sich in den Menschenhaufen und bot wieder ihren Schnaps und ihre Honigkuchen an.

Die Sonne war endlich schon hinter den Deich hinabgesunken; statt ihrer glimmte ein rotvioletter Schimmer empor; mitunter flogen schwarze Krähen vorüber und waren auf Augenblicke wie vergoldet, es wurde Abend. Auf den Fennen aber rückte der dunkle Menschentrupp noch immer weiter von den schwarzen, schon fernliegenden Häusern nach der Tonne zu; ein besonders tüchtiger Wurf mußte sie jetzt erreichen können. Die Marschleute waren an der Reihe; Hauke sollte werfen.

Die kreidige Tonne zeichnete sich weiß in dem breiten Abendschatten, der jetzt von dem Deiche über die Fläche fiel. ,Die werdet ihr uns diesmal wohl noch lassen!’ rief einer von den Geestleuten, denn es ging scharf her; sie waren um mindestens ein halb Stieg Fuß im Vorteil.

Die hagere Gestalt des Genannten trat eben aus der Menge; die grauen Augen sahen aus dem langen Friesengesicht vorwärts nach der Tonne; in der herabhängenden Hand lag die Kugel.

,Der Vogel ist dir wohl zu groß’, hörte er in diesem Augenblick Ole Peters' Knarrstimme dicht vor seinen Ohren; ,sollen wir ihn um einen grauen Topf vertauschen?’

Hauke wandte sich und blickte ihn mit festen Augen an: ,Ich werfe für die Marsch!’ sagte er. ,Wohin gehörst denn du?’

,Ich denke, auch dahin, du wirfst doch wohl für Elke Volkerts!’ ,Beiseit!’ schrie Hauke und stellte sich wieder in Positur. Aber Ole drängte mit dem Kopf noch näher auf ihn zu. Da plötzlich, bevor noch Hauke selbst etwas dagegen unternehmen konnte, packte den Zudringlichen eine Hand und riß ihn rückwärts, daß der Bursche gegen seine lachenden Kameraden taumelte. Es war keine große Hand gewesen, die das getan hatte; denn als Hauke flüchtig den Kopf wandte, sah er neben sich Elke Volkerts ihren Ärmel zurechtzupfen, und die dunkeln Brauen standen ihr wie zornig in dem heißen Antlitz.

Da flog es wie eine Stahlkraft in Haukes Arm; er neigte sich ein wenig, er wiegte die Kugel ein paarmal in der Hand; dann holte er aus, und eine Todesstille war auf beiden Seiten; alle Augen folgten der fliegenden Kugel, man hörte ihr Sausen, wie sie die Luft durchschnitt; plötzlich, schon weit vom Wurfplatz, verdeckten sie die Flügel einer Silbermöwe, die, ihren Schrei ausstoßend, vom Deich herüberkam; zugleich aber hörte man es in der Ferne an die Tonne klatschen. ,Hurra für Hauke!’ riefen die Marschleute, und lärmend ging es durch die Menge: ,Hauke! Hauke Haien hat das Spiel gewonnen!’

Der aber, da ihn alle dicht umdrängten, hatte seitwärts nur nach einer Hand gegriffen! Auch da sie wieder riefen: ,Was stehst du, Hauke? Die Kugel liegt ja in der Tonne!’ nickte er nur und ging nicht von der Stelle; erst als er fühlte, daß sich die kleine Hand fest an die seine schloß, sagte er: ,Ihr mögt schon recht haben; ich glaube auch, ich hab gewonnen!’ (...)

(aus: Storms Werke in einem Band. Bearbeitet und gedeutet für die Gegenwart. Stuttgart/Hamburg o. J.)

                                            Buchempfehlungen:

 

  

Ihno Alberts, Harm Wiemann, Ursula Basse-Soltau:
"Das alte Friesenspiel ist jung -
Klootschießen und Boßeln einst und jetzt"
Verlag Soltau-Kurier Norden
1988
ISBN 3-922365-53-1

Helge Kujas: "Klootschießen, Boßeln, Schleuderball", Gebundene Ausgabe (1994), Verlag Isensee, Oldenbg. ISBN: 3894422289

                                                                 Bestellen können Sie diese Bücher bei:

Michael Augustin, Friedrich Johannsen:
"Vom Boßeln, Klootschießen und vom Bowl-playing"
Verlag H. Lühr & Dircks, Sankt Peter-Ording
1978
ISBN 3-921416-04-3

Brian Toal:
"Road Bowling in Ireland"
Compiled, written and published by Brian Toal
on behalf of the Ulster Branch of
Bol Chumann Na hEireann
Printed in Ireland by R&S. Printers Ltd.
1996
ISBN 0 9527596 0 8


Bildbände über Bockhorn und Grabstede 

Dieter Horstmann:
"Bockhorn in alten Ansichten"
Verlag Europäische Bibliothek in Zaltbommel/NL
ISBN 90 288 0191 x
Dieter Horstmann:
"Bockhorn in alten Ansichten Band 2"
Verlag Europäische Bibliothek in Zaltbommel/NL
ISBN 90 288 1472 8
Dieter Horstmann:
"Kennt Ihr sie noch...die Bockhorner"
Verlag Europäische Bibliothek in Zaltbommel/NL
ISBN 90 288 1948 7